Ubuntu

Die Wiederentdeckung von Ubuntu (Menschlichkeit)

by Rommel Roberts

Autor von „Seeds of Peace“

Präsident Cyril Ramaphosa hielt seine Rede zur Lage der Nation in der City Hall von Kapstadt, einem Ort, der in der ganzen Geschichte von Südafrika dafür noch nie benutzt worden war.  Er gab viele Denkanstöße zu dem, was er den „Kampf um die Seele dieses Landes“ nannte. Was ist die Seele von Südafrika? Diese Frage ist umstritten. In der ersten Blüte unserer Demokratie schienen die führenden Persönlichkeiten vom Format eines  Nelson Mandela und Desmond Tutu die tieferen Elemente der nationalen Seele erfasst zu haben. Die Konzepte von Ubuntu und Versöhnung wurden für das Land zu entscheidenden spirituellen Begriffen, die es zu verfolgen und zu verinnerlichen galt.

 Es ist bedauerlich, dass ihr Ruf nach einer Regenbogennation, die aus dem Geist von  Ubuntu und Versöhnung aufblühen sollte, mit der Zeit weitgehend verhallt oder ganz verstummt ist. Mit dem Drang nach Reichtum und dem Missbrauch der Macht erschienen Habgier, Korruption und krasser Materialismus. Die Konzepte und Ideen, die unsere nationale Seele bewegen, wurden zu Phrasen zerredet und wie wertloses Konfetti herumgeworfen; sie wurden gesehen, aber in ihrer zugrundeliegenden Bedeutung nicht beachtet. Abgehobene Theoretiker und schwadronierende Politiker, von denen die meisten in ihrem Leben noch nie ernsthaft um etwas kämpfen mussten, benutzen ‚Ubuntu‘, ‚Versöhnung‘ und ‚Entkolonialisierung‘ als praktische Begriffe, um Schuldgefühle zu erzeugen, anstatt sich den ernsthaften Herausforderungen zu stellen, die sie jeweils erfordern.

 Bei dem provozierenden Ruf nach einer Rückkehr zur afrikanischen Authentizität werden in der Regel Beispiele für mögliche Veränderungen aus der Geschichte aufgegriffen; und dann versiegen die Beispiele und die Logik endet, weil es zu unbequem wäre, die Sache weiter zu verfolgen. Keiner der Protagonisten möchte auf seine Gucci Schuhe, schicken Autos und eine Reihe weiterer Luxusgüter und Vorstellungen verzichten, die durch Kolonisatoren eingeführt wurden. All die heiße Luft ist Popcorn für die Massen; einige Ideen bekommen sogar ein wenig Beifall, aber der Mangel an nachhaltiger Authentizität entlarvt einfach die Scheinheiligkeit und Oberflächlichkeit dieses Diskurses in unserem Land.

 Ich war 45 Jahre lang im Kampf um Freiheit (nicht um Macht) aktiv. Ich war an einem höchst erfolgreichen Kampf gegen Vertreibung und gegen die Passgesetze beteiligt und engagierte mich in den verschiedenen Initiativen, in denen Schwarze und Weiße Seite an Seite in Solidarität für die Menschenrechte kämpften. Ein Kampf, in dem Erzbischof Tutu eine Schlüsselrolle spielte.

 Wesentlich dabei waren die Tausende von Frauen, die in entscheidenden Momenten aufstanden und zeigten, was die großartige Idee bedeutet, die Ubuntu verkörpert. Bei einem besonderen Vorfall kamen sie auf die weißen Polizisten zu, die sie im berüchtigten "No-Name-Camp" gefangen hielten, sangen friedlich schöne Lieder und forderten sie auf, sie frei zu lassen, damit sie zusammen mit ihren Männern leben konnten. Diese demonstrierte Idee von Ubuntu führte dazu, dass die Polizisten begannen, ihre eigene Rolle und ihr von der Apartheid verlangtes Verhalten zu hinterfragen. Das ging so weit, dass viele von ihnen in Tränen ausbrachen und dann ihre Posten aufgaben. Sie gingen nach Hause –  die Rolle, unschuldige Frauen und Kinder als Geiseln zu halten, während diese nur das Recht einforderten, als Familie zu leben, war nicht ihre eigentliche Aufgabe.

 Auf ähnliche Weise wurde Professor Smit dazu bewegt, sich nicht nur gegen die Apartheid aufzulehnen, sondern den Geist von Ubuntu zu demonstrieren, indem er von seinem angenehmen Job an der Universität von  Stellenbosch zurücktrat und aus Solitarität mit dem Kampf der Schwarzen Menschen eine bescheidene Position als einfacher Pastor in Mamelodi annahm. Er blieb bis zu seinem Lebensende in Mamelodi und diente seiner Gemeinde. Es würde mir schwerfallen, eine gegenwärtige Führungsperson zu benennen, die solch einen radikalen Schritt gehen würde. Einige argumentieren, dass er einen Schuldkomplex gehabt habe, den er hätte bearbeiten müssen. Diese Vermutung geht an der Sache vorbei, da er das Thema Schuld auf viele verschiedene Arten hätte angehen können, innerhalb seiner eigenen Universität, wo er Einfluss gehabt hätte. Er entschied sich stattdessen, mit den Armen zu leben.

 Die Verkörperung von Ubuntu in so vielen unserer Schwarzen Communities hat in jenen bewegten Tagen während des Kampfes gegen die Apartheid viele Weiße beeinflusst. Leider ist das nun zu einer stinkenden Kloake der Gier, des Anspruchsdenkens, der Feindseligkeit, des Rassismus, der massiven Korruption und des Missbrauchs in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verkommen.

 Die Idee, die von unserem verstorbenen Erzbischof Tutu und Mandela ausging, sollte den Weg zeigen für eine Zukunft, in der die Menschen, die den Geist von Ubuntu repräsentierten, weiterhin ein Beispiel geben würden für ihr Vermächtnis und das Vermächtnis der wunderbaren einfachen Frauen aus unserem Kampf. Von diesem Ausgangspunkt sollte aus diesem Geist heraus für alle ein Weg geformt werden, der in den kommenden Jahren eine Zukunft aufbauen sollte für dieses Land, geeint in seiner Vielfalt, wie es durch die Vision der Regenbogennation vorgesehen ist.

 Bei der Akzeptanz von Ubuntu kommt es weitgehend darauf an, wie diese Idee von denjenigen vermittelt wird, die sie in ihrem Leben verwirklichen. So ist es auch  mit dem Christentum und anderen Religionen. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich Kirchengemeinden in der EU dazu aufrief, junge Menschen nach Südafrika zu schicken, damit sie sich vom herrschenden Materialismus lösen und den Geist von Ubuntu in unseren afrikanischen Gemeinden in sich aufnehmen. Jedes Jahr kam ein Team  und blieb ein Jahr lang. Viele von ihnen lebten in ländlichen Gemeinden und sogar in einfachen Hütten. 20 Jahre später, nachdem mit ihrer Hilfe in solchen ländlichen Gemeinden mehr als 100 Bildungszentren aufgebaut wurden, sehen wir die Früchte ihrer Arbeit. Sie kamen, um ein Abenteuer zu erleben, und gingen mit bleibenden Eindrücken und veränderter Wahrnehmung sowie anderem Verhalten. Dabei entstanden dauerhafte Beziehungen, die bis heute anhalten.

Den Geist von Ubuntu zu vermitteln ist harte Arbeit – man bekommt eine Vorstellung davon, was führende Persönlichkeiten wie Erzbischof Tutu und Mandela ertragen mussten. Ihr bewundernswertes Beispiel hat viele  Ausländer, Weiße und eine breite Basis von Südafrikanern ermutigt, Ubuntu in ihr Leben zu integrieren.

 Seien wir realistisch – welche Herausforderungen müssen wir bewältigen, um das Vermächtnis unserer Ikonen zu pflegen. In Wirklichkeit scheinen wir auf ein Stadium der stinkenden Fäulnis herabgesunken zu sein, das alle guten Bürger als widerwärtig empfinden. Der Gestank löscht jede Idee von Ubuntu aus. Wir hören nur überall den

Aufschrei der Armen, da sie Tag für Tag in allen Bereichen des  Dienstleistungssektors mit einem Verhalten von Anti-Ubuntu konfrontiert sind. Unsere Krankenhäuser, unsere Schulen, Verwaltungen und die Polizei sind einige der Institutionen, wo die Armen alltäglich albtraumhaft schlechten Service  erfahren. Wir erleben das beschämende Verhalten vieler unserer Politiker mit Äußerungen, die durch alle unsere Medien hallen und oft rassistisch gefärbt sind. Bemerkungen wie „Ich habe nicht gekämpft, um arm zu sein“ und „Die Zeit zum Essen ist gekommen“, „Tötet die Buren“ zeigen eine Haltung und einen Geist, die unsere gesamte Gesellschaft durchdrungen und unsere Jugend korrumpiert haben. Ist das die wunderbare Idee Ubuntu, die unsere Regenbogennation, unsere Jugend und alle anderen lernen und verinnerlichen sollen?

 Das ist nicht, was wir von unserem Kampf erwartet haben – das ist nicht, wofür unser Erzbischof und andere Führungspersonen gekämpft haben. Von unserem neuen System haben wir etwas völlig anderes erwartet als unsere koloniale Vergangenheit. Es ist nicht verwunderlich, dass man verrückte Kommentare hört wie „das Leben unter der Apartheid war besser – Da wusste man, was zu erwarten war.“ Wieder einmal sind die Armen die Hauptleidtragenden. Gehen Sie zu irgendeiner Institution des Dienstleistungssektors und erleben Sie, was die Armen dort erleben. Wir sollten uns um unsere jungen Leute Sorgen machen – sie sind unsere Zukunft. Zwei Drittel von ihnen sind zur Zeit arbeitslos.

 Das Krebsgeschwür der Korruption hat sich, ähnlich wie COVID, so tief eingewurzelt,  dass es inzwischen das ganze Land erfasst hat, und zwar so sehr, dass viele unserer jungen Leute vor allem nach schnellem Reichtum streben; sie wissen dabei, dass es keine Rolle spielt, ob mit lauteren oder unlauteren Mitteln gearbeitet wird, da es keine funktionierende Korruptionsbekämpfung gibt. Die Zumas, viele Politiker und ihre Nachkommen sowie tausende weitere Kleptokraten haben mit ihren Landsitzen, schnellen Autos, üppigen Grillfesten und Auslandskonten den praktischen Weg zum Erfolg demonstriert. All das wurde ohne Bestrafung erreicht und in bestimmten Kreisen mit Lob und Applaus begleitet.

 Viele unserer Gemeinden sind zu Orten verkommen, in denen rücksichtslose Kriminelle ihr Unwesen treiben –  man verdient schnelles Geld durch den illegalen Verkauf von Grundstücken, schließt sich Banden oder mafiösen Erpressungsaktionen an, verkauft Drogen und sogar die Kinder des Nachbarn, wobei gewisse korrupte Elemente in den Strafverfolgungsbehörden gut mitarbeiten.

Unsere Gemeinden haben sich in eine Hölle voller Angst verwandelt, wo Frauen und Kinder zur Zielscheibe aller Arten von Gewalt werden. Fremdenfeindlichkeit steigt exponentiell, wenn Jobs knapper werden. Das ist nicht Versöhnung, das ist nicht gelebtes Ubuntu.

 Es ist offensichtlich, dass der Geist von Ubuntu weitgehend verschwunden ist. Es gibt einige Ausnahmen wie die wunderbare Reaktion auf die  Gewaltaktionen von Kwa-Zulu-Natal im Juli 2021. Ich fürchte, unser neuer Kampf muss um  die Wiederentdeckung von Ubuntu gehen.

Es liegt in der Verantwortung von allen, nicht nur in der eines einzigen Sektors. Diejenigen, die für sich in Anspruch nehmen, über Ubuntu zu verfügen, haben eine noch größere Verantwortung

 Die Herausforderung besteht für uns alle darin, zu wachsen und Ubuntu wiederzuentdecken, indem wir die Werte unserer Verfassung – nach den Worten des Präsidenten "die beste der Welt" – gewissenhaft und wahrhaftig umsetzen.

 Aus der Asche des vom Feuer zerstörten Parlaments muss eine ehrliche und pragmatische Gesellschaft auferstehen, in der Qualifikation, Leistung und Mitgefühl zählen. Das ist durch die Pflege von Ubuntu möglich.


(Deutsche Übersetzung: Christina Stiefel)

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